Sonntag, 2. Dezember 2012

Die Erfolge von Chávez und Venezuelas Volk beruhen nicht nur „auf dem Erdöl“

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Paul Kellogg


1. November 2012

Während aller Augen in Nordamerika auf die Präsidenten-Wahlen in den USA gerichtet waren, ist eine andere Wahl für das Volk im Süden von viel größerem Interesse gewesen. In der Bolivarianischen Republik von Venezuela hatte Präsident Hugo Chávez eine starke Herausforderung seitens der – ausnahmsweise – vereinten Opposition zu bestehen. Gwynne Dyer war nicht alleine, als er Tage vor den Wahlen spekulierte, dass sie „der Schwanengesang für Hugo Chávez sein könnten“. Doch als die Wahl stattfand, da war es nicht einmal knapp, sondern Chávez gewann ein drittes Mal die Präsidentschaft mit 55.08 %, weit vor den 44.3 %, die sein Herausforderer Henrique Capriles Radonski (CNE) erhielt. Kein Kandidat in jener anderen Wahl in Amerika kann von so einem Sieg überhaupt nur träumen.

Es gab gute Gründe für das große Interesse an den Wahl-Ergebnissen „südlich der Grenze“. Die Präsidentschaft von Chávez ist im Zentrum der Sicherstellung der Souveränität in Lateinamerika und der Karibik gewesen, eine Sicherstellung der Souveränität, die eine Mauer gegen die ökonomischen, politischen und militärischen Übergriffe des Globalen Nordens errichtet hat. Um ein Beispiel für diese drei Sphären zu nehmen, hat die Mauer des Widerstands bewirkt:


  • den Kollaps der Freien Handelszone der beiden Amerika (FTAA) im Jahr 2005, die damals durchgesetzt werden sollte, jetzt aber vollständig im Sterben liegt;
  • die Entscheidung der Organisation der amerikanischen Staaten von 2009, den Ausschluss Kubas aus der Organisation zu beenden;
  • die Suspendierung 2009 der Mitgliedschaft von Honduras wegen des rechten Staatsstreichs gegen Präsident José Manuel Zelaya.
Nichts davon wäre noch vor einigen Jahren denkbar gewesen. Die Tatsache einer wachsenden Gruppe von Staaten, die bereit ist, den USA zu trotzen, ist eine riesige Veränderung gegenüber 1990. Nichts davon wäre möglich gewesen ohne den Amtsantritt von Chávez 1999, die erste Regierung seit vielen Jahren (abgesehen natürlich von Kuba), die offen gegen die US-Hegemonie war.

Die Errungenschaften der Präsidentschaft von Chávez werden beinahe immer von der Presse des Globalen Nordens herabgesetzt. Dyer ist typisch, wenn er zwar zugibt, dass „die Präsidentschaft von Chávez den Armen in vieler Weise von Nutzen war“, was aber nur dem Öl zuzuschreiben sei. Chávez, so sagt er, „kam in den Genuss der großen Erdölexporte und einer zehnfachen Erhöhung des Ölpreises auf dem Weltmarkt“, so dass „fast das ganze Wachstum der Ökonomie Venezuelas seit dem Machtantritt von Chávez den höheren Ölpreisen zu verdanken ist“. (Dyer)

Dies ist irreführend. Alberta in Kanada hat Öl und ist eins der entwickeltsten Gebiete der Welt. Nigeria in Afrika hingegen hat Öl und ist in einer tiefen, lähmenden Armut und Unterentwicklung versunken. Eine Ressource wie Erdöl für die nationale Entwicklung zu nutzen, ist keine unfehlbare Frage, sondern eine politische Frage, und die Situation, die Chávez bei seinem Amtsantritt 1999 geerbt hat, war politisch gegenläufig.

Seit 1976 stand die Ölgewinnung, Raffinierung und Verteilung unter dem Schirm einer staatseigenen Ölgesellschaft, Petróleos de Venezuela, S. A. (PDVSA). Aber die PDVSA operierte nicht im Interesse weder der venezolanischen Ökonomie noch der venezolanischen Armen. Sie war in Wirklichkeit eine Front der Erdöl-Gesellschaften des Globalen Nordens, die die meisten ihrer Privilegien behielten und extrem geringe Royalties und Steuern zahlte. In dem Orinoco-Ölsand zum Beispiel „reduzierte die PDVSA die Royalties für ihre Projekte auf 1 Prozent und die venezolanische Regierung wurde reich, aber die Ökonomie blieb in schlechter Verfassung, die Armut wuchs und der Ölreichtum floss aus dem Lande".

Diese Situation zu ändern, erwies sich als außerordentlich schwierig. 2006 nannte Chávez seinen Plan für die Öl-Wirtschaft „Volle Souveränität über das Erdöl“ mit dem Ziel, die Mehrheitskontrolle über die 32 gemeinsamen Öl-Unternehmen zu gewinnen, indem er die Einkommenssteuer auf 50 % erhöhte und die „Royalties für die Regierung, die nur 1 % betrugen, auf 33 % anhob“ (Carreño 2006, Collier 2006, McNew 2008, O'Grady 2005). Im Jahr 2000 waren die Ziele sehr viel bescheidener. Im November 2001 brachte er das Hydrocarbon-Gesetz durch, das vor allem zum Ziel hatte, die Royalties gleitend von 20 auf 30 % zu erhöhen.

Die Quelle der Details über das Hydrocarbon-Gesetz, ansonsten eine trockene Lektüre, ist „The Oil Daily“. Aber interessanterweise hebt dieselbe Ausgabe dieses Blattes einen weiteren Aspekt der Reformen von Chávez hervor, der als problematisch angesehen wird. „Ebenfalls kontroversiell ist die Gesetzgebung der neuen Landreform, die die Enteignung von Ländereien erlaubt, die von der Regierung als unproduktiv angesehen werden“. (Oil Daily 2011) Es gibt eine faszinierende Beständigkeit dieser Befürworter der Multis, die so eifrig sind, die Interessen des Globalen Nordens und der Privilegierten des Globalen Südens, der Großgrundbesitzer zu verteidigen.

Es war dieser bescheidene Versuch, die Privilegien der Öl-Industrie zu beschneiden, durch den die soziale Krise von 2002 und 2003 verursacht wurde. Die Korruption in der venezolanischen Gesellschaft war nicht auf die Unternehmen beschränkt. Die Führer der größten Zentral-Gewerkschaft, die 'Arbeitervereinigung von Venezuela (CTV)' mitsamt der wichtigen Fedepetro – der Erdöl-Gewerkschaft – vereinigte sich mit den Bossen der Organisation, Fedemarcas, gegen Chávez. Diese perverse Front von privilegierten Managern und korrupten Gewerkschaftlern unternahm alles, um die Reformen zu stoppen.

Die Höhepunkte dieses Kampfes sind gut bekannt. Im April 2002 gab es einen versuchten Staatsstreich gegen Chávez, der durch die massive Mobilisierung der ärmsten Teile von Caracas und eine Spaltung in der Armee vereitelt wurde. Im Winter 2002-2003 gab es einen Streik (in Wirklichkeit einen Lockout) mit dem Zentrum in der Ölindustrie, der die Wirtschaft in die Knie zwang. Er wurde erst beendet, als die Arbeiter, die Chávez unterstützten, die Angestellten, die die Opposition unterstützten, beiseiteschoben und die Produktion wieder ankurbelten. Am Ende wurden 18 000 PDVSA Angestellte – die Hälfte der PDVSA-Belegschaft, aber 90 % der Angestellten“ entlassen. (Collier 2006, Clough 2008)

Erst nach einem massiven sozialen Umbruch, der fast zwei Jahre dauerte, war Chávez in der Lage, das grundlegende Recht, die Royalties für die Ölproduktion im Lande zu erhöhen, sicherzustellen. Der springende Punkt is, dass es keineswegs automatisch verläuft, in der Lage zu sein, die Profite aus der extraktiven Industrie in die Entwicklung des Landes zu lenken, von der sozialen Hilfe für die Armen ganz zu schweigen. Sehr starke Klassenkräfte waren dagegen, diese wichtigen Schritte zu unternehmen. Es brauchte zwei Jahre scharfer Klassenkämpfe, um diese bescheidenen Reformen durchzusetzen.

Diese ganze Geschichte spielt für Kommentatoren wie Dyer keine Rolle. Er verurteilt Chávez, weil er ein geringeres ökonomisches Wachstum erzielt hat als Brasilien oder Kolumbien. Natürlich ist das ökonomische Wachstum in Venezuela langsamer gewesen. Erstens ist Brasilien die größte Ökonomie auf dem südamerikanischen Kontinent mit einem heimischen Markt, der um das Vielfache größer als der Venezuelas ist. Zweitens war das Wachstum Kolumbiens die Folge, eine Marionette der USA zu sein, und der Preis seines Wachstums war die Vertreibung von Millionen von ihrem Land, der Tod von hunderttausenden Menschen durch die rechten Todesschwadronen. Drittens konnte Venezuela zwar 2003 die Kontrolle über sein Öl erlangen, aber die Ölindustrie hat sich noch nicht völlig erholt von dem Verlust von 18 000 Fachkräften. Es ist völlig verständlich, weshalb sie gefeuert wurden – ihre Allianz mit den Bossen der Gewerkschaften brachte das Land an den Rand des Chaos. Aber die moderne Erdölindustrie ist außerordentlich komplex und deren Fähigkeiten und Expertise müssen erst nach und nach ersetzt werden.

Der erfahrene Kommentator Lateinamerikas Mike Gonzales identifiziert in seiner Analyse der Wahlen einige echte Probleme im zeitgenössischen Venezuela: „Wer immer mit offenen Augen durch Venezuela reist, kann nicht umhin den auffälligen Konsum der Bourgeoisie zu bemerken, mit ihren Shopping-Zentren und 4W-Autos mit gefärbten Scheiben, die durch die Straßen düsen“. (Gonzales 2012) Er hat Recht. Es entwickelt sich eine neue Elite um den Staatsapparat. Und die Privilegien der alten Elite sind immer noch bemerkenswert intakt. 

Aber Gonzales macht seine Kritik weniger überzeugend, indem er eine verwirrende Einschätzun der Wahlergebnisse abgibt: „Obwohl offizielle Sprecher der Regierung darauf bestehen, dass die Stimmen für Chávez zunahmen, waren seine Stimme in Wirklichkeit, trotz eine großen Kampagne mit immensen Mitteln, viel geringer als jemals seit 1998“ (Gonzales 2012).


Es gibt mehrere bemerkenswerte Aspekte an dieser Tabelle. Erstens: Die Zahl der Wählerstimmen  ist explodiert. Die gesamte Stimmenabgabe betruf 1998 nur knapp 7 Millionen. Sie stieg 2006 auf fast 12 Millionen und auf mehr als 15 Mill. im Jahr 2012. Mehr als doppelt so viel Leute haben 2012 gewählt wie 1998.

Dies beruht nur zum Teil auf Bevölkerungszunahme. Der zweite Schlüsselfaktor ist die Zunahme der gesamten Wahlbeteiligung. 1998 wählten 63.76 % der Bevölkerung. 2006 stieg diese Zahl auf 74.69 % und in diesem Jahr auf die erstaunliche Zahl von 80.52 %. Diese Wahlbeteiligung ist höher als in Kanada und weitaus höher als in den USA. Vielleicht brauchen wir Leitartikel in der Globe and Mail und der New York Times, die den Mangel an Demokratie im Globalen Norden beklagen und Venezuela für seinen hohen Anteil an Bürgerbeteiligung bei den Wahlen loben.

Dann schaut euch die Gesamtzahl der Stimmen für Chávez an. Er wurde 1998 mit 3.7 Mill. Stimmen gewählt. Dies verdoppelte er fast im Jahr 2006 auf 7.3 Mill. Und in diesem Jahr erhielt er fast 8.2 Mill Stimmen – eine Zunahme von fast 900 000 Stimmen.

Aber die Wahlen von 2012 haben einen geringeren Gewinn für Chávez gebracht angesichts der massiven Wahlbeteiligung. Es gab eindeutig eine massive Mobilisierung der Rechten, um Chávez auszubooten. Dass seine Stimmen zunahmen trotz der Flut an rechter Organisierung ist beeindruckend.

In der Tat war es diese Anstrengung der Rechten, die das politische Verhalten in Venezuela prägte. Die einzige Haltung, die man bei diesen Wahlen einnehmen konnte, bei welcher Kritik auch immer, war, Chávez zu unterstützen, was, wie Jeffrey Webber betonte, „von fast der Gesamtheit der venezolanischen Linken in den vergangenen Monaten erkannt wurde, selbst in jenen Sektoren, die besonders kritisch gegenüber den Grenzen des politischen ökonomischen Programms der Regierung sind und dem schleichenden Einfluss einer bedeutenden konservativen bürokratischen Schicht innerhalb der herrschenden Partei“ (Webber 2012).

Außerhalb Venezuelas sehen wir uns einer anderen Herausforderung gegenüber. Das große Verbrechen von Chávez in den Augen der USA, Englands und Kanadas ist es, dass er einer Bewegung vorsteht, die ihre Fähigkeit eingeschränkt hat, die Ölprofite aus dem Land zu ziehen; eine Bewegung, die stattdessen diese Profite in soziale Programme gelenkt hat. Die Folge ist, dass die multinationalen Ölgesellschaften und der Globale Norden nur allzu bereit sind, jede Mobilisierung des rechten Flügels gegen Chávez zu unterstützen, und wir müssen bereit sein, unseren Teil zu tun, sie zu bekämpfen, wenn sie derlei Aktionen in Gang setzen werden.

Fußnoten

  • Carreño, Rafael Ramírez. 2006. “Full Sovereignty Over Oil.” Sitio Web PDVSA.
  • Clough, Langdon D. 2008. “Energy Profile of Venezuela.” The Encyclopedia of Earth.

  • CNE. 2006. “Elección Presidencial – 3 De Diciembre De 2006.” Poder Electoral.

  • 2012. “Divulgación Elección Presidencial – 07 De Octubre De 2012.” Poder Electoral.

  • Collier, Robert. 2006. “Chavez Drives a Hard Bargain, but Big Oil’s Options Are Limited.” San Francisco Chronicle, September 24.

  • Dyer, Gwynne. 2012. “Hugo Chavez’s Swan Song in Venezuela?: He Could Lose; He Could Die. But What He Has Built Will Survive Him.” The Spectator, October 2

  • González, Mike. 2012. “Venezuela: El Chavismo Contra Un Candidato No Tan Nuevo.” En Lucha, October.

  • IFES. 1998. “Election Profile for Venezuela – Results.” Election Guide.

  • McNew, B. Seth. 2008. “Full Sovereignty over Oil: A Discussion of Venezuelan Oil Policy and Possible Consequences of Recent Changes.” Law and Business Review of the Americas 14: 149–158.

  • O’Grady, Mary Anastasia. 2005. “Americas: Oil Wells Refuse to Obey Chavez Commands.” Wall Street Journal, May 20, sec. A.

  • OAS. 2010. “Member States.” OAS – Organization of American States: Democracy for Peace, Security, and Development.

  • 2012. “Member States.” OAS – Organization of American States: Democracy for Peace, Security, and Development.

  • The Oil Daily. 2011. “Venezuelan Strike Poses Big Challenge.” The Oil Daily, December 10.

  • Webber, Jeffrey R. 2012. “Latest Step in a Long Road: The Venezuelan Elections.” The Bullet, October 12.
 
Quelle - källa - source 

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